Am Ende der Welt.

Am Ende der Welt. In Norwegens Vardø.

 

Ende der Welt´s gibt es viele.

Geographische, und gefühlte.

 

Mein Ende der Welt heißt Vardø.

 

Vardø ist eine Stadt in Norwegen. Mit knapp über 2000 Einwohnern. Die nordöstlichste Stadt des Landes. So östlich, dass einige der Schilder nicht nur englische, sondern auch russische Übersetzungen liefern.

 

Früher wurde reger Handel mit den Bewohnern der Region rund ums Weiße Meer, den russischen Pomoren, betrieben. Heute scheinen die Haupteinnahmequellen Vardøs der Tourismus und die Fischerei zu sein. Täglich läuft nachmittags ein Hurtigruten-Schiff im Hafen ein und die Meertouristen ziehen durch den kleinen Ort. Beleben ihn für einige Stunden.

 

Ewiges Licht - Ewige Nacht. Vardø Norwegen. Art by Steve Espo Powers.
Ewiges Licht - Ewige Nacht in Vardø. Art by Steve Espo Powers.

 

Vardø liegt auf einer Insel und wird von der wilden Barentssee umschlossen. Im Sommer wirds kaum dunkel und im Winter kaum hell. Das Klima ist arktisch.

 

Die Bedingungen in Nordnorwegen sind rau. Nie scheint kein Wind zu wehen, und die Temperaturen sind selbst im „Hochsommer“ selten im zweistelligen Bereich über 15°C. Man muss wohl für das Leben unter diesen Bedingungen geschaffen sein.

 

Mich irritiert der Schnee, den ich auf dem Festland sehen kann. Denn ich besuche Vardø im Juni.

 

Vardø, Norwegen. Im Juni. Im Hintergrund Schnee.
Vardø. Im Juni. Im Hintergrund Schnee.

Ankunft

Nach einer Übernachtung am Flughafen von Oslo ging es mit kleinen Propellermaschinen weiter. Erst nach Kirkenes, dann nach Vardø. Eine Katze und ein kleines Baby liefern sich einen lautstarken Kampf darum, wer die Flugsituation unangenehmer findet. Die Katze gewinnt.

Der Flughafen Vardøs ist so klein, dass nur ein einziger Mitarbeiter beschäftigt ist, als wir ankommen. Aber es steigen auch nur drei Menschen aus: Eine ältere Dame, die junge Frau mit Baby und ich. Die Dame wird von einem Taxi abgeholt und ich beginne ein Gespräch mit der jüngeren Frau. Frage sie nach dem Weg in den Ort.

Im Vorfeld hatte ich mir die Entfernung vom Flugplatz zum Hafen rausgesucht: Etwas mehr als drei Kilometer. Falls mich trampend niemand mitnehmen würde, könnte ich das laufen.
 
Es handelt sich bei der vermeintlichen Brücke zur Insel um einen Tunnel, erfahre ich von Julia. Ich gucke blöd, sie lächelt. „Do you need a lift?“, fragt sie freundlich. „I do.“, gestehe ich, denn einige Kilometer im Tunnel sind mir doch zu unheimlich und gefährlich.

Kurze Zeit später werden wir von ihrem Liebsten am Flughafen eingesammelt. Ich flirte auf der Rückbank mit dem Baby, während ich von unseren Segelplänen berichte.

Ich weiß nur grob, wo ich Pouncer finde: „By the fisherboats“.

 

Pouncer´s Blick auf Vardø, Norwegen.
Pouncer´s Blick auf Vardø.

Aber ich muss Pouncer und Crew nicht suchen. Aus dem Auto heraus entdecke ich meine Segelmädels, Charlotte und Vanessa. Bepackt mit Rucksäcken und neuen, leuchtend roten Benzinkanistern. Ich bedanke und verabschiede mich von meinen freundlichen Fahrern, bevor überschwängliche Begrüßungen und schnelle Berichterstattungen stattfinden.

Laut quatschend kommen wir an Fischereifabrik und Wirtschaftsgebäuden vorbei. Die Luft ist salzig-fischig und die unzähligen Möwen machen noch mehr Krach, als unzufriedene Babies und Katzen in Flugzeugen.

Seit Wochen sehe ich Pouncer zum ersten Mal: Im Päckchen liegend an Fischerboot Balder. Chic und segelfertig. Mir wird ganz warm ums Herz.

 

Pouncer am Fischerboot. Hinten Fischfabrik und Möwen. Vardø, Norwegen.
Pouncer am Fischerboot. Hinten die Fischfabrik. Überall Möwen.

In Vardø

Es bleibt nicht viel Zeit für Sentimentalitäten dieser Art: Nach einem schnellen Lunch soll es gleich weiter gehen. Ich werfe also meine Sachen an Bord, wir verzehren gerösteten Toast mit Käse, stärken uns mit Kaffee und beginnen mit der Erkundung des kleinen Örtchens.

Wir erfahren viel über die Geschichte Vardøs. Besichtigen das gleichermaßen beeindruckende wie beklemmende Steilneset Memorial und das angeblich nördlichste Fort der Welt. Wie an so vielen anderen Stellen im Ort, wird auch hier gerade gebaut und ausgebessert.

 

Steilneset Memorial. Vardø, Norwegen.
Memorial.
Fort. Vardø, Norwegen.
Fort.

Immer wieder frage ich mich, ob Vardø gerade am Zerfallen oder am Aufblühen ist. Denn viele Läden und Häuser sind leer und ungenutzt.

 

Aber einige sehen nur so aus.

 

Zum Beispiel das schönste Café (Mitte der Strandgatan): Von außen unscheinbar und nahezu schäbig. Aber innen gemütlich und mit kostenlosem W-Lan ausgestattet (das gibts ebenfalls im Touristen-Office, wo man übrigens auch Duschen kann).

 

Ähnlich verhält es sich mit dem ABC-Thai. Von außen wirkt er wie ein Imbiss und wenig einladend. Innen ists aber schön und das Essen ist gut.

Verlassen.

Viele Gebäude sind wirklich verlassen.

 

Die Bevölkerung hat sich nämlich zwischen 1960 und 2000 halbiert. Und die früheren Bewohner ließen Vardø ihre Häuser zurück. Diese sind heute in sehr unterschiedlichem Zustand, von "nur" unbewohnt bis fast gänzlich zerfallen.

 

2012 hat sich der Norweger Künstler "Pøbel" dies zu Nutzen gemacht: Er organisierte das "Komafest" bei dem internationale Künstler neues Leben in die verlassenen Gebäude brachten. Diese damit quasi aus ihrem Koma weckten.

 

Sie sprühten, malten, schnitzten in Mauern und verlegten im Boden. Überall in Vardø gibt es kleine und große Kunstwerke zu finden. Alle mit Bezug zum Ort.

 

Pøbel´s Komafest zeigt nicht nur, dass große Kunstprojekte auch in kleinen Städten funktionieren, sondern auch dass Vardø ein attraktiver Ort ist. Die Anwohner und anderes Publikum, nahmen das Ganze so gut an, dass es 2013 gleich damit weiterging und für 2016 erneut Aktionen geplant sind.

 

Man. Carved in Stone by VHILS. Vardø, Norway
Man. Carved in Stone. Art by VHILS.
Shed. Sprayed by HuskMitNavn. Vardo, Norway.
Shed. Sprayed by HuskMitNavn.

Harbour Life and Sea Fever.

Die folgenden Tage in Vardø sind von Organisation geprägt.

 

Wir erledigen Einkäufe. Essen und Trinken für fünf bis zehn Tage, Diesel, Motoröl, sowie raue Mengen an Papier- und Feuchttüchern müssen nicht nur ins Boot, sondern dort auch sinnig und segelfest verstaut werden.

 

Denn von Vardø aus, segeln wir nach Russland. Ohne Stopp. Ohne Anlegen.

 

Sea Fever in Vardø, Norway. Art by EB Itso.
Sea Fever in Vardø. Art by EB Itso.

 

Das Gerücht, dass drei Mädels sich und ihr Boot fertig machen, um nach Russland zu segeln, macht innerhalb weniger Stunden die Runde im Ort. Alle grüßen freundlich, lächeln, wenn sie uns sehen oder stellen Fragen. Vanessa reist nach zwei Tagen ab, um ihre Familie in Griechenland zu besuchen. Sie wird mit an Deck gegrilltem Gemüse verabschiedet und an ihrerstatt kommt Arne zur Crew hinzu. Auch von diesem Crewwechsel scheint ganz Vardø sofort zu wissen.

 

Charlotte verbringt viel Zeit mit der Nase vorm Laptop oder ihren Seekarten. Sie plant die letzten Einzelheiten unserer Weiterreise und organisiert außerdem jemanden, der das AIS Gerät repariert, damit wir auf See andere Schiffe angezeigt bekommen.

 

Wir führen noch kleine Reparaturen und Veränderungen am Boot durch, optimieren die Wantenspannung und üben das Anbringen des Storm-Jibs.

 

Arne klettert auch noch den Mast hinauf, um die Mastbeschläge zu kontrollieren und eine weitere Flaggenleine anzubringen.

 

Charlotte und Arne auf Pouncer in Vardø, Norwegen.
Charlotte und Arne auf Pouncer.
Klettermax.
Klettermax.

Nebenbei lernen wir unsere Fischernachbarn kennen. Zwei von Pøbel gemalte Fischer stehen immer an unserem Steg herum. Sie haben uns mit grimmigen Blicken be- oder überwacht, da bin ich nicht ganz sicher.

 

Lebendige Nachbarfischer gabs aber auch.

 

Zum Beispiel das Fischerpärchen Daniel und Miriam. Sie klären uns nicht nur über verschiedenen Fang-Techniken unterschiedlicher Fischerboote auf und helfen beim Dieseltransport, sondern schenken uns auch noch frischen Seelachs fürs Abendbrot.

 

Nachbarfischer. Art by Pøbel. Vardo, Norway.
Nachbarfischer. Art by Pøbel.
Cod is great by Steve Espo Powers. Vardø Norway.
Cod is great by Steve Espo Powers.

 

Und dann gabs da noch Alfred.

Eigentlich ein eher schweigsamer Mensch, vom freundlich-grummeligen Fischer-Typ.

 

Aufgeregt und mit wedelnden Armen kam er vom Fischen zurück und rief uns zu: "Holt eure Kameras raus und kommt her!"

 

Gut, machten wir. Er hatte auch schon Kumpels aus der Fischereifabrik und seine Frau angerufen, damit sie schnell zum Hafen kämen. Denn alle sollten sehen, was er mit nach Hause brachte.

 

Wir trudelten also am Anlegesteg ein und Alfred lüftete endlich sein Geheimnis:

 

Ein Heilbutt.

 

Aber kein normaler Heilbutt, sondern einer von 2,20m Größe. Das war selbst für die anwesenden langjährigen Fischer ein Ereignis. Und für uns sowieso. Der Fischkoloss wurde erst gemessen und gewogen (>120kg!) und dann folgte ein etwas unschöner, blutiger Teil, auf den ich hier nicht näher eingehen mag.

 

Alfred: Stolz wie Oskar!
Alfred: Stolz wie Oskar!

Wir müssen weiter.

Der geplante Segelstart wird sturmbedingt verschoben und wir genießen eine lange und heiße Dusche. Die letzte für wer-weiß-wie-lange. Denn es geht weiter nach Russland. Von Vardø aus segeln wir nach Archangelsk.


Ich gebe zu, dass mir der Abschied schwer fällt. Vardø hat Spaß gemacht.

 

Der kleine Ort mit Fischer-Charme und Urban Art ist mir ans Herz gewachsen.

Text: Rike Jütte

Fotos: Arne Gerken und Rike Jütte

Danke fürs Lesen!

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